Braucht es die Bibliothek? – ein Interview
Für Frau Dr. Lisner und Frau Dr. Wolters ist das eine rhetorische Frage. Im Gespräch haben die beiden Ihre Lehr- und Forschungstätigkeiten an der MHH konturiert und über ihr Verhältnis zu Büchern und Bibliotheken Einblicke gegeben.

Zu den Personen
Dr. phil. Wiebke Lisner ist promovierte Historikerin. Ihre 2006 veröffentlichte Dissertation befasst sich mit Hebammen im Nationalsozialismus. An der MHH lehrte sie bis zum Herbst 2021/22 Geschichte, Theorie und Ethik – Geschichte auch in den Hebammenwissenschaften. In einem Drittmittelprojekt erforscht sie derzeit die Pandemieplanung seit den 1990ern.
Dr. Christine Wolters ist ebenfalls Historikerin. In ihrer 2009 veröffentlichten Dissertation behandelt sie das Thema Tuberkulose und Menschenversuche im Nationalsozialismus. Sie ist fest angestellt für Forschung und Lehre im Bereich Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin. In ihrem aktuellen Drittmittelprojekt geht es um Kriegsbeschädigte nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Institutsbibliothek wird insbesondere von Dr. Wolters betreut.
Wenn Lisner und Wolters recherchieren, nutzen sie den Bibliothekskatalog der MHH, die HOBSY-Kataloge, den GVK und den KVK. Für Dr. Lisner ist die Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Warschau eine tolle Bibliothek. Dr. Wolters hält sich gern im Rara-Lesesaal im 8. Stock des Grimm-Zentrums in Berlin auf.
Zu den Tätigkeiten
Lisner und Wolters betreiben überwiegend zeithistorische Forschung. Dabei empfinden sie das Arbeiten mit gedruckten Büchern als ein „schönes Arbeiten“, da man die Seiten hin- und herblättern, sich durch den Inhalt haptisch navigieren kann. Glücklicherweise haben die beiden Forscherinnen auch in ihrer neuen Institutsleiterin Prof. Dr. med. Dr. phil. Sabine Salloch eine Fürsprecherin für die Institutsbibliothek: 50% des Buchbudgets werden für die Lehre aufgewendet für ausgewählte Literatur, für einen Handapparat und auch für Mehrfachexemplare. Die Institutsbibliothek kann pro Tag zeitlich begrenzt in Präsenz von Lehrenden und Forschenden, von Studierenden und Promovierenden genutzt werden.
Für das neue Wahlpflichtmodul „Medizin und Krieg“ konnten über das Budget Bücher mit umfassenderen Informationen angeschafft werden. Wikipedia kann nämlich nur einen Einstieg in ein Thema liefern, aber dieses eben nicht umfassend behandeln und mit interessanten Fragestellungen aufwarten.
Die anderen 50% des Budgets für Bücher dienen der Erwerbung im Bereich Forschung, die von Neuerscheinungen bis antiquarischen Werken ein breites Spektrum umfassen. Hier kommen auch viele lohnenswerte Anschaffungsvorschläge aus dem Kreis der Promovierenden, so zum Beispiel zum Forschungsthema, wie Ärzte zwischen 1970 und 1985 über Homosexualität dachten. Zukünftige Doktoranden rekrutieren sich häufig aus den Wahlpflichtmodulen, in denen Lisner und Wolters auch ihre Forschungsthemen mit einbringen können. Zusammen mit Herrn PD Heiko Stoff und Dr. Bernd Gausemeier betreuen sie 25 bis 30 Doktoranden. Diese sind vielfach durch ihr Studium nicht darauf vorbereitet, plötzlich geisteswissenschaftlich zu arbeiten. Durch das Segment in der Bibliothek der MHH, in dem Lehrbücher und weiterführende Literatur zur Medizingeschichte und zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben stehen, hat sich der eine oder andere aber vielleicht inspirieren lassen.
Zu den Büchern und den Bibliotheken
Die persönliche Beziehung zu Büchern sehen Lisner und Wolters darin begründet, dass sie selber schreiben: „Wir freuen uns, Bücher zu machen“. Dabei beobachten sie bei sich die Tendenz „als Historiker zum Langlebigen“, also eine Vorliebe zum gedruckten Buch.
Bibliotheken kanalisieren das Wissen, gedruckte Bücher, die in unserer Bibliothek stehen, haben einem hohen Standard. Frei zugängliche Bücherregale laden dazu ein, rechts und links zu schauen und sich dadurch beflügeln zu lassen. Vielfach ist der Ort der Bibliothek ein historischer, wie zum Beispiel im Theodor-Lessing-Haus „die Zeit stehengeblieben“ scheint und dadurch seinen besonderen Reiz erhält. In einer Bibliothek vor Ort zu sein hat viele Vorteile, verständlich ist für Lisner und Wolters aber auch der Wunsch, von extern nicht nur bei der Recherche, sondern auch auf Inhalte zugreifen zu können.
Beide loben die Bibliothek der MHH und ihre Services. Wenn sie dringend etwas benötigen, erledigt die Bibliothek es schnell. Lobenswert erwähnt haben sie das Engagement von Herrn Maass, Publikationen über die Fernleihe zu beschaffen, und von Herrn Prosch, der die für den Leihverkehr zur Verfügung stehenden Bestände der Institutsbibliothek gut kennt. Vielfach sucht er die Kolleg_innen auf, wenn ein Band für die Lehr- und Forschungstätigkeiten in den Büros in Benutzung ist. Die Arbeitsbedingungen für diese enge Zusammenarbeit sind sehr gut, nicht zuletzt durch die räumliche und organisatorische Nähe. „Der Service der Bibliothek ist super.“
Die Proseminare werden durch Bibliotheksführungen, Recherche-, Datenbank- und Literaturverwaltungsschulungen der Bibliotheksmitarbeiter_innen gelungen flankiert. Sie ergänzen die Lehrinhalte als wichtige Dienstleistung vor Ort und erklären, wo die verschiedenen Publikationen im Regal zu finden sind, wie man geeignete Titel für das eigene Forschungsthema recherchieren und wie man dabei die Verschlagwortung für sich nutzen kann.
In einem Projekt von 2019 bis 2020 hat Dr. Sylvia Necker architekturgeschichtliche Rundgänge in der MHH angeboten. Dabei wurde für Lisner und Wolters nochmals besonders deutlich, dass die Bibliothek als eine Zentrale für Lehrende und Studierende gemeinsam konzipiert wurde, um eine Begegnung auf Augenhöhe zu ermöglichen. Die Bibliothek ist eine Schnittstelle, die Forschung, Lehre und Klinik verbindet.
Von Vielen werden die Arbeitsplätze in der Bibliothek ganztägig genutzt. Doktoranden von Lisner und Wolters sitzen dort und kommen zwischendrin herunter in deren Büro, um nach der Konsultation mit den Lehrenden oder der Bücher des Handapparats wieder in die Bibliothek zurückzukehren.
Die Frage „Braucht es die Bibliothek?“ ist also keine echte Frage, denn für Lisner und Wolters ist die Bibliothek „kein Ort, wo rein technisch Wissen bereitgestellt wird“, sondern ein Ort, an dem Lernende, Forschende und Lehrende sich zum Arbeiten treffen, sich austauschen und gemeinsam Zeit verbringen. Die Services der Bibliothek ergänzen die Inhalte der Lehre sinnvoll. Die Bibliothek stellt einen öffentlichen Bereich dar, einen Kommunikationsraum mit einer guten eigenen Sammlung. „Es geht um einen gemeinsamen zentralen Ort, der zum Wissensaustauch einlädt.“
Auf die Frage hin, was könnte und sollte die Bibliothek der MHH für ein Ort sein, heben Lisner und Wolters den Aspekt der Kommunikation hervor. Für das Foyer im Treppenhaus noch vor der Bibliothek haben sie Möglichkeiten für soziale Kontakte vor Augen, wo man Kaffee trinken, sitzen und sich austauschen kann. Gut finden Lisner und Wolters, dass man in der Bibliothek trinken darf, womit den Nutzer_innen ein großer Gefallen getan ist.
Liebe Frau Dr. Lisner, liebe Frau Dr. Wolters, vielen Dank für das anregende Gespräch!
In den Kommentaren hören wir wie immer gerne Ihre Meinung.